Woher kommt die Unzufriedenheit?

von Uwe Stöhr, erschie­nen im Stüh­lin­ger Maga­zin 4–2016

Wenn man reist, stellt man schnell fest, wie gut es uns in Deutsch­land im Ver­gleich zu den meis­ten Men­schen der Welt geht. Ja, wir sind uns des­sen bewusst: Wir haben immer Trink­was­ser, das noch dazu ganz bequem aus einem Was­ser­hahn kommt. Wir haben jeder­zeit Strom und Inter­net. Wir haben eines der bes­ten Gesund­heits­sys­te­me der Welt, eines der dich­tes­ten und bes­ten Stra­ßen­net­ze. Es gibt ein her­vor­ra­gen­des Nah­ver­kehrs­an­ge­bot, Züge und Bus­se fah­ren nach Fahr­plan in dich­tem Takt. Unse­re Schu­len bie­ten frei­en Zugang für alle Kin­der. Unse­re Leh­rer sind exzel­lent aus­ge­bil­det, unse­re Berufs­aus­bil­dung ist ein Vor­bild für vie­le Län­der. Im Aus­land bli­cken Leu­te nei­disch zu uns und Eini­ge neh­men gro­ße Gefah­ren auf sich, um bei uns ein bes­se­res Leben zu star­ten.

Man könn­te daher mei­nen wir sind ein Volk von Pes­si­mis­ten. Dies sind wir nicht. Fakt ist aber, dass sich vie­le abge­hängt füh­len und frus­triert sind. War­um? Stel­len Sie sich vor Sie sind zu zweit. Die ande­re Per­son hat 1000 € die sie ver­tei­len kann. Wenn Sie der Ver­tei­lung zustim­men, dür­fen sie bei­de das Geld behal­ten, wenn Sie ableh­nen, bekommt kei­ner auch nur einen Cent. Ihr Gegen­über könn­te Ihnen also 10 € bie­ten und 990 € behal­ten wol­len. Wür­den Sie zustim­men? Objek­tiv gese­hen, ist das sinn­voll, denn 10 € ist bes­ser als nichts. Den­noch wür­den Sie sicher empört ableh­nen und lie­ber auf das Geld ver­zich­ten. Wir sind sozia­le Men­schen und wol­len wert­ge­schätzt wer­den. Pas­siert dies nicht, ent­steht Frust. Schau­en wir uns um, pas­siert genau das. Wir haben zwar eines der bes­ten Gesund­heits­sys­te­me, aber nicht alle haben den­sel­ben Zugang dazu. Pri­vat­pa­ti­en­ten kom­men z. B. schnel­ler an Unter­su­chun­gen. Wir haben tol­le ICE-Züge mit einer ver­lo­cken­den 1. Klas­se, aber nicht alle kön­nen sich den ICE leis­ten, geschwei­ge denn die 1. Klas­se. In den Rei­se­bü­ros hän­gen Bil­der von Traum­zie­len, die für vie­le nur ein Traum blei­ben. Wir sehen also stän­dig Sachen, an denen wir nicht teil­ha­ben kön­nen. Man fühlt sich abge­hängt. Das ist ver­ständ­lich, denn hät­te im Expe­ri­ment von eben Ihr Gegen­über nur 20 € zur Ver­fü­gung, wären Sie mit den 10 € sicher­lich zufrie­den. In bei­den Fäl­len bekom­men Sie 10 €, sind ein­mal aber unzu­frie­den, beim ande­ren Mal erfreut. Zufrie­den­heit hängt also offen­sicht­lich davon ab, was in unse­rem Umfeld ver­füg­bar ist und was wir davon nut­zen kön­nen.

Auch wenn wir objek­tiv gese­hen in einem rei­chen Land leben, ist den­noch ein Teil unse­rer Bevöl­ke­rung arm. Das kann man sich an einem Bei­spiel ver­deut­li­chen: Mol­da­wi­en gilt als Armen­haus Euro­pas, denn 200 € im Monat ist ein nor­ma­les Gehalt. Eine Fahrt im Stadt­bus (ohne Monats­kar­te etc.) kos­tet aber auch nur ca. 12 Cent. In Frei­burg sind es 2,30 €, also 19 Mal mehr. In Deutsch­land müss­te man also 19 mal 200 = 3800 € monat­lich ver­die­nen, damit man auf dem­sel­ben Niveau ist. Ein Muse­um in Mol­da­wi­en kos­tet im Bereich 25 Cent Ein­tritt, bei uns im Bereich 5 €. Auch wenn ein Mol­da­wi­er also rech­ne­risch viel ärmer ist, kann er den­noch am öffent­li­chen Leben teil­ha­ben. Für die Bei­spie­le gibt es sicher auch Gegen­bei­spie­le und in Mol­da­wi­en lie­gen vie­le Din­ge im Argen. Sie ver­deut­li­chen aber, dass es immer der Ver­gleich mit der direk­ten Umge­bung ist, der ent­schei­det. Kann man nicht teil­ha­ben, ist man nicht zufrie­den. Was nützt eine Auto­bahn, wenn man kein Geld für deren Maut hat? Gibt es im Land hin­ge­gen nur Schot­ter­pis­ten, ist man nicht so frus­triert, auch wenn objek­tiv gese­hen die Stra­ßen schlech­ter sind, denn schließ­lich müs­sen alle mit ihnen aus­kom­men. Anders aus­ge­drückt ist es eine Stra­fe vor einer Ach­ter­bahn zu ste­hen und Ande­ren beim Fah­ren zuzu­se­hen, ohne selbst ein­mal fah­ren zu kön­nen.

Wir mögen erstaunt sein über die Wut im Inter­net, die vie­len Pro­test­wäh­ler bei Wah­len und das man­geln­de Ver­trau­en in die Poli­tik, aber dies ist die logi­sche Kon­se­quenz man­geln­der Teil­ha­be. Je unglei­cher Wer­te ver­teilt sind, des­to weni­ger kann man sie nut­zen, des­to mehr fühlt man sich frus­triert. Die Frus­trier­ten fra­gen sich zu Recht, war­um sie eta­blier­te Par­tei­en wäh­len sol­len, die Ungleich­heit geschaf­fen oder nicht ver­hin­dert haben. Die Lösung liegt eigent­lich auf der Hand:
Ehe man etwas Neu­es erschafft, muss man dafür sor­gen, dass alle etwas vom Bestehen­den haben. Wenn man etwas Neu­es erschafft, muss man sich vor­her Gedan­ken machen, wie alle davon pro­fi­tie­ren, ansons­ten soll­te man es las­sen.
Über­tra­gen wäre das: Ehe man neue Kran­ken­häu­ser baut, muss man sicher­stel­len, dass alle gleich behan­delt wer­den, dass also alle in eine gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung ein­zah­len, egal wie viel sie ver­die­nen. Wenn es eine Erb­schafts­steu­er gibt, dann soll­te sie so sein, dass jeder pro­zen­tu­al gleich viel zahlt, und kei­ne Per­so­nen bevor­zugt wer­den. Wenn man ein Schwimm­bad baut, muss man ein Kon­zept haben, dass es auch von ein­kom­mens­schwa­chen Per­so­nen genutzt wer­den kann. Wenn man neue Arbeits­plät­ze schaf­fen will, muss man sicher­stel­len, dass die­se auch so fair bezahlt wer­den, dass man sich davon die Traum­rei­se erspa­ren kann. Die­se Her­an­ge­hens­wei­se hat­te die Sozi­al­de­mo­kra­tie Jahr­zehn­te. Damit wur­de all das erreicht, was unse­ren Sozi­al­staat aus­macht. Wir müs­sen selbst­kri­tisch ein­ge­ste­hen, dass wir als SPD in den letz­ten Jah­ren davon abge­wi­chen sind. Die Pro­test­wäh­ler pro­tes­tie­ren genau dage­gen. Es wird höchs­te Zeit für alle Par­tei­en wie­der Gleich­heit und Teil­ha­be obers­te Prio­ri­tät des poli­ti­schen Han­delns ein­zu­räu­men.